The Kids Are Alright
Erschienen in material girl #5, Frühjahr 2009
Kinder berühmter Rockstars haben bei der Berufswahl nur wenige Optionen: eine Musikkarriere im Schatten von Mami und Papi, eine Fixanstellung in der Rehab-Klinik oder ein Leben in hart erkämpfter Anonymität. Die besonders Fotogenen unter den Reichen und Schönen verdienen sich ihr Taschengeld zur Abwechslung als Models.
Victoria Beckham was not amused. Hatte sie der Welt mit ihrer Kampagne für Marc Jacobs nicht gerade gezeigt, dass man auch als wandelndes Selbstbräuner-Testimonial durchaus über Selbstironie verfügen kann? Und jetzt kommt da so ein schwarzhaariges 19-jähriges Gör und stößt sie vom hart erarbeiteten High-Fashion-Podest. Und wer bitteschön soll das überhaupt sein?
Daisy Lowe heißt das Model, das sich in den aktuellen Marc-by-Marc-Jacobs-Anzeigen im grellen Blitzlicht auf dem Boden räkelt. Bisher war Miss Lowe vor allem durch ihre Mitgliedschaft in der Londoner It-Girl-Clique rund um Pixie und Peaches Geldof aufgefallen. Wer öfter mal durch Klatschmagazine blättert, wird auch ihre Eltern kennen. Papi Gavin Rossdale ist im Hauptberuf Ehemann von Gwen Stefani und Sänger der Schnulzenrocker Bush, Mami Pearl Lowe hatte in den 1990ern mehr durch ihre Drogenkarriere denn als Sängerin der Britpop-Band Powder von sich reden gemacht. Von beiden bekam Daisy das notwendige Kapital für ihre steil nach oben verlaufende Modelkarriere vererbt: ein unbestreitbares Rock-Chic-Appeal.
Genau dieses nonchalante Je-ne-sais-quoi ist es, das sie in der Vergangenheit bereits für Kampagnen von French Connection, Diesel oder Dr. Martens gewinnbringend einsetzen konnte. Bis zum Herbst werden Miss Lowes Stirnfransen und der dicke schwarze Eyeliner überhaupt omnipräsent sein, neben neuen Aufträgen für Converse, Karen Millen und den bereits erwähnten Marc Jacobs wirbt sie jetzt bereits zum dritten Mal für Agent Provocateur. Außerdem soll Daisys Rock-Look frischen Schwung in die eher konventionellen Werbelinien von Pringle of Scotland und DKNY Jeans bringen, für letzteres Label wurde sie, ganz Bloghype-gerecht, von Scott Shuman aka The Sartorialist fotografiert.
Bei neuen Zielgruppen Aufmerksamkeit zu generieren, das ist der Grund, warum Rock’n’Roll längst vom Lebensprinzip zur Marketingstrategie mutiert ist. „Was ist schon ein Bankier, ein Minister, ein Firmenchef im Vergleich zu einem Filmschauspieler oder einem Rockstar? In finanzieller, sexueller und überhaupt in jeder Hinsicht eine Null“, konstatierte Michel Houellebecq in „Elementarteilchen“ und erlag damit offenbar selbst der Faszination der Popkultur. Denn was hat der streng reglementierte Businessalltag, in dem jeder soziale Ausrutscher sofort geahndet wird, wirklich an Gegenentwürfen zu bieten? Da wirken natürlich alle auch noch so abgedroschenen Rock’n’Roll-Klischees wie das große Heilsversprechen. Euphorisierte Fans am Bühnenrand? Ja! Nahtod-Erfahrungen im Tourbus? Ja! Ewige Jugend bis weit in die Sechziger? Ja!
Kein Wunder, dass etwa eine Band wie die Rolling Stones im Kollektiv gleich ein halbes Dutzend Nachwuchsmodels hervorgebracht hat. Praktischerweise funktioniert das Familienmodell Rockstar-Papa und Model-Mama nämlich mindestens seit den 1960ern einwandfrei. Der Liaison von Ron Wood mit Ex-Mannequin Jo Howard entstammen die Teilzeitmodels Jessie and Leah, Keith Richards und 70s-Coverstar Patti Hansen bekamen Theodora und Alexandra. Die Richards-Sisters waren 2004 gemeinsam mit ihrer Mutter in Anzeigen für das Parfum Shalimar Light von Guerlain zu sehen und somit zum Teil für den Rockkids-Model-Boom verantwortlich.
Von allen Stones-Sprösslingen hat der Nachwuchs von Mick Jagger und Jerry Hall vermutlich die größten Karrierechancen: Lizzie modelte unter anderem für Tommy Hilfiger, Marks & Spencer und Mango, während sich Georgia May im Oktober 2008 über ihre erste Strecke im britischen Magazin Dazed & Confused freuen konnte.
Dass weder Lizzie noch Georgia bisher für Burberry vor die Linse gehüpft sind, verwundert einen allerdings ein bisschen. Sowohl Leah Wood als auch Theodora und Alexandra Richards durften seit dem Relaunch der Traditionsmarke durch Creative Director Christopher Bailey Seite an Seite mit Kate Moss für die charakteristischen Schottenkaros werben. Burberry war überhaupt eines der ersten Labels, das auf den zielgruppenüberschreitenden Appeal von Quereinsteigern aus der Popkultur gesetzt hat. Christopher Bailey begründet seine Entscheidung dafür folgendermaßen: „Mit einer wild zusammengewürfelten Auswahl an talentierten britischen Musikern, Schauspielern, Models und Sportlern zu arbeiten, bringt frischen Wind in die traditionelle Burberry-Familie.“
Ein guter Publicity-Coup ist Bailey außerdem mit dem Behind-the-Scenes-Video der SS08 Kampagne gelungen, das mittlerweile bei immerhin 78.000 YouTube-Aufrufen steht. Mitten drin, beim fröhlichen Durch-die-Gegend-Springen vor Mario Testinos Kamera, ein weiterer Rockstar-Nachwuchs: Eliot Pauline Styler Sumner, bei ihren Freundinnen als Coco und als Tochter von Heulboje Sting bekannt. Vom Vater hat Coco glücklicherweise nicht das Aussehen, aber eine frappierend ähnliche Gesangsstime mitbekommen. Und die nützt sie gleich, denn statt auf eine Modelkarriere zu warten, nimmt Coco mit ihrer Band „I Blame Coco“ die Dinge lieber selbst in die Hand. Ob Amber Le Bon auch so schön singt wie Papa Simon von den 80s-Synthiepoppern Duran Duran, ist noch nicht wirklich dokumentiert. Lieber tritt Amber, bei derselben Agentur wie Agyness Deyn beheimatet, in Mama Yasmines Model-Fußstapfen und startet dieses Frühjahr als Gesicht der Labels River Island und Myla Swimwear voll durch.
Etwas länger im Business als Coco und Amber sind Peaches und Pixie Geldof. Während Papa Bob die Welt vor dem Klimakollaps rettet, bringt sich das Doppelpack des Wahnsinns immer wieder in schlagzeilenträchtige Schwierigkeiten. Pixie Geldof lässt auf Partys schon mal die linke Brust aus der Bluse hüpfen, Peaches hält mit 96 Tagen den Rekord für die kürzeste in Las Vegas geschlossene Pop-Blitzehe - nach Britney Spears. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, durfte Peaches mit Daisy Lowe für die „Season of the Witch“-Kampagne von Agent Provocateur posieren. Und Pixie schaut, wieder mit Kollegin Lowe, für die aktuelle Pringle-of-Scotland-Kollektion dramatisch ins Objektiv von Starfotograf Steven Meisel.
Dass beide Geldof-Schwestern dabei nicht unbedingt wie Size-Zero-Models aussehen, die sich von 3 Litern Mineralwasser und einem Apfel pro Tag ernähren, macht die Sache umso sympathischer. Auch Daisy Lowe steht in einem Interview mit dem Guardian zu ihrem Körper: „Ich liebe Kurven. Mädchen mit Kurven sind unglaublich sexy. Wenn Klamotten für kurvigere Frauen - und das sind nun wirklich die meisten - gemacht wären, würden erstens alle viel besser aussehen, zweitens würden die Designer mehr Klamotten verkaufen und drittens müssten sie nicht immer diese superdünnen, magersüchtigen Models buchen.“
Auf der anderen Seit des Atlantiks, in Frankreich, hat Jane Birkins Tochter Lou Doillon ebenfalls so ihre eigenen Gedanken zum Thema Aussehen: „Ich habe meine Mutter immer extrem toll gefunden, weil sie keinen Busen hatte. Frauen mit perfekten Körpern, so wie Betty Page, jagen mir Angst ein. Ich schreibe mir dauernd mit einem schwarzen Marker Gedichte auf den Arm und schneide mir die Haare an den Ohren ganz kurz. Dann habe ich ein Profil wie Napoleon.“ Mademoiselle Doillon betreibt hier schamloses Understatement, denn seit Jahren ist die Schauspielerin und Musikerin auch als Model bestens im Geschäft, ob für Givenchy oder den legendären Pirelli-Kalender. Seit Frühling 2008 designt Lou für Lee Cooper Jeans ihre eigene Kollektion, für die sie logischerweise gleich selbst der beste Werbeträger ist. Bei der Launchparty werden dann Milla Jovovich und Misha Barton herzlich umarmt, und auch sonst scheint Lou das ganze Celebrity-Business ganz gut wegzustecken.
Mit Julia Restoin Roitfeld versucht sich in Paris eine weitere prominente Tochter vor der Kamera. Mama Carine ist als Chefredakteurin der französischen Vogue ja auch irgendwie ein Rockstar, an einer richtigen Karriere wird, mit Shootings für das Parfum „Black Orchid“ von Tom Ford und die Gap-Kampagne „Your Own“ vergangenen Herbst, noch gebastelt. Für Mango modelt Julia diese Saison gemeinsam mit Dakota Johnson Griffith, der Tochter von Don Johnson und Melanie Griffith.
Nur das vielleicht berühmteste Rock’n’Roll-Kind verweigert sich weiterhin standhaft dem Rampenlicht: Anfang 2008 war Frances Bean Cobain zwar kurz als das neue Gesicht von Chanel im Gespräch, danach wurde es um die 16-Jährige aber wieder ruhig. Gut so, denn mit Grunge-Ikone Kurt als Vater und Courtney Love als Mutter hat man wahrscheinlich ohnehin von Geburt an schon genug Aufmerksamkeit abbekommen.
Foto: Hedi Slimane